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- Eine Reise durch das Labyrinth von Erinnerung und Exil von Sherin Abdulaziz

Yol oder ein Zebrastreifen geht Sonne suchen

Eine Reise durch das Labyrinth von Erinnerung und Exil
von Sherin Abdulaziz

 

Nachts, wenn du durch die Straßen der Stadt wanderst, kannst du auf abwesende Gesichter treffen, auf Körper, die ziellos umherziehen, auf Stimmen, die flüstern oder ins Leere schreien. Vielleicht empfindest du Mitleid oder Unruhe, aber du gehst weiter und vergisst sie nach wenigen Momenten. Genau diese Menschen, die wir so schnell vergessen, stehen im Mittelpunkt des Stücks Yol oder ein Zebrastreifen geht Sonne suchen. Die Inszenierung verleiht den Stimmen der Verbannten Ausdruck, jenen, die nach einer Identität suchen, in den Städten, die ihnen nie ganz Heimat werden. Drei Figuren ziehen uns mit Musik durch eine Hamburger Nacht, locken uns durch die Straßen, Plätze und Gassen und entführen uns in eine Welt, die uns in unserer Zurückhaltung und unserem geordneten Alltag erschüttert. Die Grenze zwischen Theater und Realität verwischen. Es gibt keine Bühne hier, keine Kulissen, sondern die Stadt selbst wird zur Theaterfläche. Wie der Kritiker Arthur Sainer schrieb: "Manchmal ist der Raum selbst das Ereignis." Genau das geschieht in dieser Aufführung.

 

Hamburg als Spiegel der Diaspora

Zwischen den Gassen und Gebäuden sprechen die Figuren über Erinnerung, sich Selbst und Orte, die nicht mehr die ihren sind. Sie tauschen Namen der Nachbarn aus, erinnern sich an Familien, die von den Jahren fortgespült wurden. Sie erzählen von Frau Kiarostami, die seit acht Jahren kein Wort gesprochen hat, und von der Frau, die ihr Leben lang das Theater putzte, ohne je zu wissen, wer Bertolt Brecht war. Diese Szenen enthüllen die Zerbrechlichkeit von Zugehörigkeit und die Realität von Städten, die zwar alle aufnehmen, aber niemanden wirklich umarmen.

Um das Gefühl von Fremdheit und Entwurzelung noch zu verstärken, kam es in der Vorstellung vom 3. März 2025 zu einem unvorhergesehenen Ereignis: Eine der drei Schauspielerinnen, "Nina", konnte krankheitsbedingt nicht auftreten. Stattdessen übernahm der Autor des Textes, "Nail Doǧan", ihre Rolle, was die innere Zerrissenheit und Identitätssuche für die Zuschauer noch spürbarer machte... Plötzlich suchten wir in "Nail" nach "Nina", während er sagte: "Tagsüber bereitet mir dieses Leben Kopfschmerzen, und nachts fürchte ich mich vor Männern."

Existenz und Fremdsein wiederholen sich im Text, etwa in Mercedes' Satz: "Du kannst nicht niemand sein. Niemand kann niemand sein." Diese Aussage spiegelt die Angst der Migranten wider, die zwischen zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Heimaten leben, ohne vollständig Teil einer von beiden zu sein. Sie leben in einer Stadt "mit sechshundertfünfunddreißig Parallelgesellschaften... und eine davon gehört mir ganz allein", sagt Nina.

 

Zerbrochene Sprache... wie ihre Identitäten

Die Schauspieler halten keine langen Monologe, sondern zerschneiden die Worte, wiederholen sie, halten inne und suchen nach Bedeutung. Manchmal finden sie sie nicht und kehren dann zu ihren Muttersprachen zurück: Türkisch, Persisch, Spanisch. Diese Sprachabbrüche sind nicht bloß ein stilistisches Mittel, sondern Ausdruck des sprachlichen Exils, in dem keine einzelne Sprache die Erfahrung vollständig abbilden kann.

 

 

Inneres und äußeres Exil

"Kemal Altun", der im Stück erwähnt wird, ist keine fiktive Figur, sondern ein politischer Geflüchteter, der sich 1983 aus Angst vor der Abschiebung in sein von einer Militärdiktatur beherrschtes Heimatland aus einem Berliner Gerichtsgebäude stürzte. Seine Erwähnung ist kein Zufall, sondern ein Hinweis darauf, dass dies nicht nur eine persönliche Geschichte ist, sondern auch die Geschichte einer ganzen Generation von Migranten und Vertriebenen, die zwischen einer verlassenen und einer noch nicht akzeptierenden Welt gefangen sind.

 

Miles Davis' Musik... die Stimme des Exils

"Als ich Miles Davis zum ersten Mal gehört habe, dachte ich, ich würde sterben", sagt "Mercedes". Dieser Satz war nicht nur eine Anspielung auf einen Musiker, sondern Ausdruck des Moments, in dem man sich der eigenen Einsamkeit, der Stille und dem Nichts stellt. Davis' improvisierte, fragmentierte Musik, die sich frei außerhalb traditioneller Strukturen bewegt, gleicht genau der Situation der Figuren im Stück: Stimmen, die nach Bedeutung suchen, in einer Stadt, die sie verschlingt, ohne ihnen eine Antwort zu geben.

Eineinhalb Stunden lang zogen wir mit ihnen durch die Straßen unter dem Himmel von Hamburg, verirrten uns mit ihnen, sahen durch ihre Augen: Gebäude in unterschiedlichsten Formen und Farben, belebte Fenster und trostlose Fassaden, weite Plätze und enge Gassen, in denen wir eng zusammenrückten. Schilder von Geschäften und Restaurants, Plakate politischer Parteien... das ist Hamburg, das ist die Welt.

Am Ende bietet das Stück keine Lösungen. Die Figuren finden ihren Weg zur "neuen Sonne" nicht, und sie versöhnen sich nicht vollkommen mit ihrer Vergangenheit oder ihrer Gegenwart. Doch trotz allem gehen sie weiter, so wie die Stadt weitergeht und die Welt weiterdreht.

Die Figuren fragten nach Exil, Erinnerung und Identität, und wir suchten schweigend nach Antworten. Wir warteten darauf, dass sie uns aus den tödlichen Strömen der Orientierungslosigkeit herausziehen, aber das taten sie nicht; stattdessen schrien sie: "Es ist das Ende der Welt... und dennoch lebten sie weiter und wurden Teil der Geschichte."